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Ist es nicht seltsam, wie viel dicker ein Buch wird,
wenn man es mehrmals liest? Als würde jedes Mal etwas
zwischen den Seiten kleben bleiben. Gefühle, Gedanken,
Geräusche, Gerüche... Und wenn du dann nach vielen
Jahren wieder in dem Buch blätterst, entdeckst du dich
selbst darin, etwas jünger, etwas anders, als hätte das
Buch dich aufbewahrt, wie eine gepresste Blüte, fremd
und vertraut zugleich.


[ Künstler unbekannt ]

Vampyr - Die Wiedergeburt

Die Welt hatte sich in Schwärze aufgelöst.
Es gab keinen Schmerz, keine Angst und keine Einsamkeit. Nur Dunkelheit. Alexendra hieß sie ebenso willkommen wie das Vergessen, das unter ihren Schwingen reiste. Nach all den Jahren des Kampfes war sie erleichtert, endlich Erlösung zu finden. Die Welt würde sie vergessen, so wie Alexendra die Welt vergaß. Bilder, die sie ihr Leben lang in ihrem Herzen getragen hatte, begannen zu verblassen. Sie vermochte nicht länger, sich an das Lächeln ihrer Mutter, das Zwinkern ihres Vaters oder die Neckereien ihres Bruders zu erinnern. Die Gesichter ihrer Familie verschwammen mehr und mehr. Schon bald gelang es ihr kaum noch, sich ihrer Namen zu entsinnen. Sie begann zu vergessen woher sie gekommen und wohin sie gegangen war. Orte, Namen, Gesichter - nichts war mehr von Bedeutung. Sie konnte die Menschen, deren Antlitz sie sah, nicht länger unterscheiden. Gesichter wurden eins mit der Schwärze, die sie verschlang. Nur ein einziges Bild begleitete sie noch auf ihrem Weg durch das undurchdringliche Nichts. Ein hochgewachsener Mann mit schwarzem Haar und durchdringenden blauen Augen. Wohin sie sich auch wandte, er war bereits dort. Er hatte ihrer Familie Schreckliches angetan und zugleich hatte er sie - Alexendra - gerettet. Er war der Mann mit den zwei Gesichtern. Mächtig, liebevoll und abgrundtief böse. Sie wollte auch ihn aus ihrem Gedächtnis bannen, doch während die Erinnerung an ihr Leben immer weiter verblasste, blieben seine Züge erschreckend klar. Wann immer sie ihn erblickte, verspürte sie den Drang, ihm zu entfliehen. Zugleich wollte sie die Hand nach ihm austrecken, um ihn festzuhalten.
Als der Nebel kam begann auch sein Antlitz zu entschwinden. Ihn zu verlieren war schmerzhafter als alles andere. Er war alles gewesen, was ihr von ihrem Leben geblieben war. Er WAR ihr Leben. Wenn sie ihn ansah erinnerte sie sich an all das, was sie einst ausgemacht hatte. Hass, Furcht, Wärme und Liebe.
Der Nebel nahm ihr auch das. Nun war sie wirklich allein - und zum ersten Mal wünschte sie, es nicht zu sein. Der Nebel füllte die Schwärze, hell und undurchdringlich wie eine Mauer. Dahinter wartete das Leben mit all seinen Erinnerungen. (S. 178)

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